Biologisierung

Die Natur verfügt über einen riesigen Pool an cleveren Lösungen, zum Beispiel material- und energiesparende Produktionsprozesse, sich selbst reparierende oder anpassungsfähige (und damit intelligente) Materialien. Dies sind nur einige Beispiele der breiten Palette an Möglichkeiten, die die Natur als Ideengeber für die Technik bereithält. Diese biologischen Inspirationsquellen zu nutzen, bietet dem deutschen Forschungs- und Industriestandort erhebliche Chancen für zukünftige Anwendungen im Umwelt- und Klimaschutz, in der Medizin oder im Bauwesen, sowie für neue Produkte, Produktionssysteme und Geschäftsmodelle von morgen. Wir nennen es die „Biologisierung der Technik“.

Unsere Gesellschaft erfährt derzeit in vielen Bereichen einen tiefgreifenden Wandel – mit massiven Aus­wirkungen auf die Art und Weise, wie wir zukünftig leben und wirtschaften werden. Dieser macht auch vor der Materialforschung nicht halt. Mit den sich ändernden Anforderungen steigt auch die zu beherrschende Komplexität in der Material- und Werkstoffforschung, was zwangsläufig dazu führt, dass wir unser Repertoire an Inspirationsquellen erweitern müssen.

Eine dieser Inspirationsquellen, die wir dank neuer wissenschaftlicher Untersuchungen und Verfahren zunehmend besser verste­hen, ist die belebte Natur. So verfügen lebende Orga­nismen über die Fähigkeit, ihren Aufwand an Energie und Ressourcen zu reduzieren, intelligente Strategien der Informationsverarbeitung und des Recyclings zu entwickeln sowie Stoffwechselreaktionen auf engs­tem Raum optimal und zeitlich koordiniert ablaufen zu lassen. Unser zunehmendes Verständnis über Aufbau und Funktion natürlicher Materialien und biologische Prozesse und Prinzipien eröffnet uns neue Perspektiven für innovative technische Lösungen.

Bereits heute profitiert die Technik von der Natur. Zum Beispiel durch die Nutzung bio­gener Ausgangsmaterialien („Biopolymere“) oder durch das Nachahmen von biologi­schen Materialstrukturen und Bauplänen („Bionik“). Das Ziel der „Biologisierung“ der Materialforschung geht weit darüber hinaus. Hier geht es darum, die in biologischen Systemen vorkommenden Prozesse und Prinzipien zu verstehen, sie für technische Anwendun­gen nutzbar zu machen und aus ihnen neue Eigenschaften für technische Materialien sowie die darauf basierenden Produkte abzuleiten (Bioinspiration).

Anwendungspotenziale und -beispiele

Mögliche technische Anwendungspotenziale, für die die Natur eine „Blaupause“ liefern kann, sind unter anderem Materialien, die sich an veränderte Umgebungsbedingungen anpassen (adaptive Materialien) oder selbstheilende Materialien. Selbstorganisationspro­zesse bieten das Potenzial für neue selbstheilende Materialien mit erhöhter Lebensdauer, z. B. „Riss­heilung“ im Beton oder „zuwachsende“ Kratzer bei Autolacken.

Programmierbare Materialien können einen Para­digmenwechsel im Umgang mit Materialien einleiten, indem sie technische Multimaterialsysteme, bestehend aus beispielsweise Sensor, Regler, Aktuator und Ener­gieversorgung, durch ein einzelnes lokal konfiguriertes System ersetzen. Der Schlüssel dazu ist das program­mierbare Design der inneren Struktur – etwas, was die Natur in unvergleichlicher Art und Weise beherrscht.

Für den Bereich „Gesundheit & Lebensqualität“ ist die Bio­logisierung ebenfalls einer der wichtigsten Innova­tionstreiber – angefangen bei der Diagnostik bis hin zu Therapiesystemen oder biohybriden Organen. So können z. B. gezielt strukturierte und funktionalisierte Materialien und Werkstoffe zu einer Individualisierung und Personalisierung von Medizinprodukten beitragen und die Verträglichkeit und Funktion von Implantaten durch biofunktionalisierte Oberflächen oder Zellbe­schichtungen erhöhen. Schon heute gibt es Ansätze zur Herstellung dreidimensionaler Strukturen aus lebenden Zellen mittels 3D-Druck-Techniken. In Zukunft lassen sich so einmal passgenau körpereigene Gewebe für Transplantationen drucken oder in fernerer Zukunft sogar ganze Organe.

Ziele und Maßnahmen der BMBF-Förderung

Mit dem im Jahr 2020 initiierten „Ideenwettbewerb Biologisierung der Technik“ hat das BMBF einen ersten Schritt unternommen, das in Deutschland verfügbare Wissen über den Transfer biologischer Prinzipien, Prozesse und Verfahren (Bioinspiration) im Hinblick auf die technische Machbarkeit und die Umsetzung in industriellen Nutzen zur Geltung zu bringen. Hiermit wird ein disziplinübergreifender und systemlösungsorientierter Ansatz mit Verzahnung von Material-, Werkstoff- und Produktionsforschung verfolgt. Die in den zunächst auf ein Jahr angelegten Projekten gewonnenen Erkenntnisse sollen Impulse für die weitere Ausgestaltung zukünftiger BMBF-Förderaktivitäten im Kontext der Biologisierung der Technik geben, mit dem Ziel, die technologische Souveränität des deutschen Forschungs- und Industriestandortes nachhaltig zu stärken.

Basierend auf den Erfahrungen aus dem „Ideenwettbewerb Biologisierung der Technik“ hat das BMBF im Oktober 2022 die Förderrichtlinie „Biologisierung der Technik: Bioinspirierte Material- und Werkstoffforschung“ veröffentlicht. Gefördert werden innovative Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsprojekte (FuEuI-Projekte) des vorwettbewerblichen Bereichs, deren Schwerpunkt im Bereich der Material- und Werkstoffforschung liegt und die den Themenfeldern "Superhydrophobe Oberflächen und hierarchische Strukturierung" oder "Selbstregulierende Materialien / Self-X-Materialien" zuzuordnen sind. Mit der Ausschreibung verfolgt das BMBF das Ziel, das in Deutschland vorhandene Innovationspotenzial der Biologisierung der Technik nutzbar zu machen und in industrielle Wertschöpfung zu überführen. Um das zu erreichen, sollen die Forschenden aus Akademie und Industrie gezielt dabei unterstützt werden, neue Erkenntnisse im Bereich der biologisch inspirierten Materialien, Methoden und Werkzeuge zu generieren, die ihrerseits zu einer Erschließung wettbewerbsfähiger Anwendungs- und Verwertungsmöglichkeiten führen. Das angestrebte Ziel der geförderten FuEuI-Projekte besteht in der Validierung des industrielle Umsetzungspotenzials der bioinspirierten Lösungsansätze, vorzugsweise unter Aufbau eines Demonstrator-Modells.

Beispielprojekte

Die Projekte des Ideenwettbewerbes adressieren eine Vielzahl unterschiedlicher Themen, wie beispielsweise medizinische Anwendungen, Anwendungen im Bereich Leichtbau und Bauwesen oder technische Oberflächenfunktionalisierungen unter anderem für Haft- oder Reibungsoptimierung.

Eine Auswahl an Projekten finden Sie hier.

BioInnoMat

Mit dem Projekt „BioInnoMat“ wurde im Jahre 2018 ein Diskussionspapier initiiert, in dem mögliche Poten­ziale der Biologisierung für die Materialforschung und Werkstoffwissenschaften untersucht werden sollten. Unter Leitung der deutschen Akademie der Technik­wissenschaften (acatech) wurde ausgehend von den Diskussionsbeiträgen verschiedenster national wie auch international renommierter Autorinnen und Autoren, Verbände und Unternehmen der Status quo der biologisierten Material- und Werkstoffforschung beleuchtet. Anhand von vielfältigen Beispielen aus den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen – von Chemie und Energie über Medizin und Robotik bis hin zu Kunstwissenschaften und Design – konnten Forschungsfelder identifiziert werden, die von der Bio­logisierung enorm profitieren könnten. Die Autorin­nen und Autoren des Diskussionspapiers kommen zu dem Schluss, dass Deutschland mit seiner in diesem Forschungsfeld exzellent aufgestellten Grundlagen­forschung im internationalen Vergleich eine heraus­ragende Position einnimmt, die es nun in nachhaltige industrielle Wertschöpfung umzusetzen gilt.

Link zur Projektseite

BioTrain

Im Rahmen des Verbundprojekts „BIOTRAIN“ wurde das Themenfeld „Biologisierung“ insbesondere für die Bereiche Produktion, Dienstleistung und Arbeitsum­feld beleuchtet. Ziel war die Ermittlung spezifischer Forschungsbedarfe sowie von Forschungsempfehlun­gen, die zur Unterstützung der industriellen Produk­tion, insbesondere für KMU, bei der Entwicklung biointelligenter Wertschöpfungssysteme dienen sollen. Darauf aufbauend wurden Szenarien für zukünftige Entwicklungen der industriellen Wertschöpfung für Produktion, Dienstleistung und Arbeitsumfeld hin zu biointelligenten Wertschöpfungssystemen erarbeitet.

Weitere Infos